[Rezension] Junge ohne Namen

05. April 2019 | 23:42 | Gelesen

Titel: Junge ohne Namen
Autor: Steve Tasane
Originaltitel: Child I
Erstveröffentlichung: 2018
Übersetzer: Henning Ahrens


Wissenswertes

Junge ohne Namen ist das erste hierzulande veröffentlichte Jugendbuch des britischen Autors Steve Tasane, der zunächst durch seine Slam-Poetry Bekanntheit erlangte. Er selbst musste zwar nie in einem Flüchtlingslager leben, konnte aber seine eigenen Erfahrungen als Sohn eines Flüchtlings, der nach dem Verschwinden seines Vaters in einer zerrütteten Familie aufwuchs, in den Roman einfließen lassen.

Inhalt

Früher hatte er einen Namen, eine Familie und einen Ort, wo er hingehörte. Doch weil er keine Papiere hat, um seine Identität nachzuweisen, ist er jetzt nur noch Kind I und allein in einem riesigen Flüchtlingslager. Da sich niemand für sie verantwortlich fühlt, müssen er und seine Freunde, andere unbegleitete Minderjährige ohne Ausweis bzw. Lebensbuch, wie sie es nennen, selbst für sich sorgen, was alles andere als leicht ist. Vor allem bei der Essensausgabe können sie sich in der Regel nicht gegen die Erwachsenen behaupten und wirkliche Alternativen gibt es nicht. Trotzdem teilen sie das wenige, was sie finden, stets miteinander und die älteren Kinder kümmern sich um die jüngeren, sogar wenn das bedeutet selbst wieder einmal hungrig schlafen zu gehen …

Kritik

Junge ohne Namen ist eine wahrlich berührende und zugleich bedrückende Geschichte, die einen nicht so schnell wieder loslässt und daher noch lange nach dem Lesen beschäftigt.

Die gesamte Geschichte wird aus der Sicht von I geschildert, der mit Ausnahme von ein paar Erinnerungen an früher hauptsächlich über den Alltag im Lager berichtet, sodass sein vergangenes Leben kaum zur Sprache kommt. I ist ein unbegleiteter Minderjähriger und gerade einmal zehn Jahre alt, dennoch wird sogar ihm unterstellt, er würde lügen, was seine Person betrifft. Aber welchen Grund sollte ein Kind, das plötzlich völlig auf sich allein gestellt ist, dafür haben? Zusammen mit ihren Namen nimmt man den Kindern also auch ihre Identität – eine schreckliche Vorstellung. Ohne Ausweis verwehrt man ihnen rigoros die dringend benötigte Chance auf ein neues Leben.

Die Zustände in dem Flüchtlingslager, dessen Standort nicht benannt wird, sind überaus erschreckend und das unsägliche Leid der Menschen in dem betreffenden Lager, insbesondere das der Kinder, ist nur schwer zu ertragen. Als wären die schlechten hygienischen Bedingungen und das gleichgültige Verhalten der meisten Wachmänner nicht schon schlimm genug, werden die dortigen Flüchtlinge zu allem Überfluss nicht einmal mit ausreichend Lebensmitteln versorgt, sodass selbst die Kinder zum Teil tagelang hungern oder im Müll nach Resten wühlen müssen, weil sich niemand um sie kümmert. Das ist beschämend. Zudem wird zwischen den Zeilen mehrfach suggeriert, dass unbegleitete Minderjährige wie I und seine Freunde in dem Lager in Gefahr seien. Es wird allerdings nicht gesagt, von welcher Seite Gefahr droht und man will sich eigentlich gar nicht ausmalen, was genau damit gemeint sein könnte.

Alle dort untergebrachten Flüchtlinge haben vor dem Lager mit ziemlicher Sicherheit Furchtbares erlitten, weshalb man ihnen mit Behutsamkeit und Verständnis begegnen sollte. Stattdessen werden sie mit einer menschenunwürdigen Behandlung und grausamen Vorgehensweisen konfrontiert, die diese ohnehin schon traumatisierten Menschen nicht verdient haben. Vor allem auf welche Art und Weise das Lager später aufgelöst wird, ist schier unbegreiflich. Die Umsiedlung ähnelt eher einem Überraschungsangriff und ist ebenso gewalttätig und Angst einflößend. Die Verantwortlichen gestehen den Flüchtlingen dadurch nicht einmal die Möglichkeit zu ihre wenigen verbliebenen Habseligkeiten an sich zu nehmen, sondern walzen alles unangekündigt nieder, ohne Rücksicht auf Verluste.

Inwieweit die Beschreibungen tatsächlich authentisch sind, kann man als unbeteiligter Außenstehender natürlich nicht beurteilen, aber man fürchtet, dass sie sehr wohl der Wahrheit entsprechen, während man sich gleichzeitig wünscht, dass dem nicht so wäre. Es soll sich jedoch um wahre Begebenheiten handeln, beruhend auf Schilderungen echter Flüchtlingskinder, wenngleich die Charaktere als solche fiktiv sind, was einmal mehr die Frage aufwirft, warum nichts dagegen unternommen wird.

Darüber hinaus führt das Buch einem die unfassbare Unbarmherzigkeit einiger Menschen vor Augen. Wie kaltherzig muss jemand sein, um einem Flüchtling nicht nur seine wenigen Wertsachen, sondern auch noch seinen Ausweis oder gar kostbare Erinnerungsstücke zu stehlen? Was will ein Dieb mit einem fremden Photoalbum?

Das Ende von Is Erzählung ist leider sehr offen gehalten und man hat beinahe den Eindruck, dass die Geschichte mittendrin aufhört, was relativ unbefriedigend ist. Allerdings soll es einen vielleicht auf die traurige und tragische Wahrheit hinweisen, dass es in der Realität wahrscheinlich ebenfalls Flüchtlingskinder gibt, deren Verbleib ungeklärt ist.

Abschließend folgt noch ein kurzes, interessantes Nachwort des Autors, in dem er dem Leser erklärt, warum er Junge ohne Namen geschrieben hat und was ihn persönlich mit der Problematik verbindet.

Fazit

Junge ohne Namen ist ein Buch mit wenigen Seiten und vergleichsweise wenigen Zeilen, das man theoretisch in einem Rutsch lesen könnte. Stattdessen liest man es lieber mit großen Pausen zwischen den einzelnen Kapiteln, um das Gelesene zu verarbeiten, denn die Geschichte von I und den anderen Flüchtlingskindern ist keine leichte, aber definitiv eine, die mehr Beachtung finden sollte.





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