[Rezension] Du oder Ich

08. Januar 2014 | 22:47 | Gelesen

Titel: Du oder Ich
Autorin: Elsie Chapman
Originaltitel: Dualed
Erstveröffentlichung: 2013
Übersetzerin: Alexandra Baisch


Wissenswertes

Du oder Ich ist der Debutroman der kanadischen Autorin Elsie Chapman, die in Kanada aufwuchs und dort Englische Literatur studiert hat, heute aber mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Tokyo lebt. Beim Schreiben hört sie entweder viel zu laut Musik oder lässt immer wieder den gleichen Film laufen.

Du oder Ich ist zudem der Auftakt zu einer Dilogie. Der zweite Teil, Divided, soll im Mai 2014 auf Englisch erscheinen.

Inhalt

In Kersh hat jeder Mensch einen Doppelgänger. Damit sich die Stadt im Falle eines Angriffs gegen die Feinde von Außen behaupten kann, darf jedoch nur der Stärkere von ihnen überleben. Irgendwann zwischen ihrem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr werden sie aktiviert und haben von da an genau einunddreißig Tage Zeit um ihren Substituten zu finden und zu töten. Wenn sie es in dieser Zeit nicht schaffen sollten oder sich weigern ihren Auftrag auszuführen, gelten Beide als unwürdig und werden vom Board eliminiert.

Der fünfzehnjährigen West Grayer steht ihr Auftrag erst noch bevor und sie ist entschlossen dann um ihr Überleben zu kämpfen. Im Augenblick ist sie aber noch nicht stark genug, privates Training kann sie sich nicht leisten und am Waffenkundeunterricht darf sie ebenfalls noch nicht teilnehmen. Nur als Striker hätte sie die Chance Erfahrungen zu sammeln, doch dazu müsste sie zu einer Mörderin werden …

Kritik

Mit Du oder Ich hat Elsie Chapman ein Debut geschrieben, das ziemlich schleppend beginnt und nur langsam in Fahrt kommt. Wenn man jedoch durchhält, wird man dafür später mit einer zunehmend spannender werdenden Handlung belohnt, die es sogar noch vermag den Leser vollends zu fesseln, was das Buch insgesamt durchaus lesenswert macht.

Die Welt, die die Autorin geschaffen hat, ist sehr düster und das kann man von Anfang an spüren. Die Kinder wachsen in dem Wissen auf, dass ihnen früher oder später ein Kampf auf Leben und Tod bevorsteht, dem sie nicht entrinnen können. Doch selbst die Vollendeten, also die Personen, die ihren Auftrag erfolgreich abgeschlossen haben, sind nicht vollkommen sicher. Beinahe jeder Mensch in Kersh hat bereits mindestens einen Verlust erlitten, die meisten eher mehrere, und das eben nicht nur, weil immer mindestens einer von zwei Substituten sterben muss, sondern weil sich durch dieses ganze System Kollateralmorde häufig nicht vermeiden lassen und somit vom Board gebilligt werden. Gewalt auf den Straßen ist daher an der Tagesordnung und es müssen nicht nur die Eltern um ihre Kinder bangen, sondern ebenso umgekehrt, da es stets möglich ist, dass auch die Eltern nicht mehr nach Hause zurückkehren.

So ergeht es zum Beispiel der Protagonistin West, die zu Beginn der Geschichte nicht nur zwei Geschwister, sondern schließlich sogar schon beide Elternteile verloren hat, eines davon durch einen solchen Kollateralmord. Nach dem plötzlichen Tod ihres Bruders Luc, ihrem letzten verbliebenen Familienmitglied, ist sie fest entschlossen ihm zuliebe auf jeden Fall zu überleben und wird deshalb zu einer Auftragsmörderin als man ihr diese Möglichkeit in Aussicht stellt. Es ist natürlich verboten für andere zu töten, die Strafe ist vermutlich der Tod, und von der Gesellschaft werden die Striker geächtet, allerdings West weiß sich einfach nicht mehr anders zu helfen um den Kampf gegen ihre Substitutin zu gewinnen, wenn der Moment kommt. Obwohl man sich normalerweise wohl nicht unbedingt auf die Seite einer Mörderin stellen würde, kann man ihre Entscheidung in diesem Fall sehr gut nachvollziehen, vor allem wenn man bedenkt, in was für einer Welt West lebt, und verachtet sie nicht dafür. Sie selbst rechtfertigt ihre Tätigkeit damit, dass sie nicht nur ein Leben nimmt, sondern gleichzeitig eines gibt, und die Reichen ohnehin, also auch wenn sie keinen Striker anheuern, bessere Chancen haben zu überleben, weil sie sich teures Privattraining und gute Waffen leisten können und das Board nicht das Geringste unternimmt um diesen Nachteil auszugleichen. Außerdem hat West trotz ihrer Arbeit durchaus ein Gewissen und bestimmte Grundsätze, was sie sehr sympathisch macht. Es lässt sie nicht völlig kalt, wenn sie jemanden tötet, aber sie weiß eben, dass einer von Beiden sowieso sterben muss, weil das Board ihnen keine andere Wahl lässt. Im Gegenzug ist sie sehr bemüht Kollateralmorde bei ihren Jobs zu vermeiden, sie schießt zum Beispiel nicht, wenn zu viele andere Menschen in der unmittelbaren Nähe sind, und setzt auf einen schnellen, möglichst schmerzarmen Tod.

Im Gegensatz zu ihrer eigenen Substitutin setzt West darüber hinaus alles daran die Menschen, die sie liebt, wovon nur noch Chord, der frühere beste Freund ihres Bruders, übrig ist, aus ihrem eigenen Auftrag herauszuhalten, damit er nicht in Gefahr gerät oder gar ebenso zum Opfer eines Kollateralmordes wird, wobei Chord ihr das alles andere als leicht macht. Chord ist, in Bezug auf das Board und die Auslese des jeweils Stärkeren, sehr naiv und glaubt tatsächlich, dass das Filtersystem notwendig ist, weil sie sonst längst einen anderen Weg eingeschlagen hätten. Daher ist er auch gegen Wests Aktivität als Striker, steht ihr jedoch trotzdem bedingungslos bei. Sogar gegen ihren Willen als sie ihn nicht um sich haben will um ihn zu schützen, weshalb er ihr heimlich folgt und mit verschiedenen Dingen versorgt, wofür man ihn einfach lieben muss. Entgegen Wests Annahme tut er das zudem nicht nur wegen des Versprechens, das er Luc gegeben hat, und weil er sich selbst eine gewisse Mitschuld an dessen Tod gibt, sondern auf Grund seiner tiefen Gefühle für sie. Die Beiden sind miteinander aufgewachsen, kennen sich also schon ihr ganzes Leben lang, und in einigen Rückblenden wird deutlich, dass sie sich bereits vor diesem Ereignis sehr nahe standen, was die kleine, zarte Liebesgeschichte, die sich nach und nach zwischen ihnen entwickelt, besonders glaubwürdig macht. Er ist, zum Glück, sehr geduldig mit ihr und hält Abstand, als sie seine Nähe nach dem Tod ihres Bruders noch nicht erträgt. West braucht ziemlich lange um sich einzugestehen, dass sie etwas für Chord empfindet, das über Freundschaft hinausgeht, doch er gibt ihr die nötige Zeit. Und natürlich ist es schließlich Chord, der ihr klar macht, dass sie nicht weiter vor ihrem eigenen Auftrag davon laufen kann, ihr hilft sich der Situation zu stellen und ihr die Kraft gibt um ihr Leben zu kämpfen.

Der Anfang des Buches ist, wie gesagt, relativ ereignislos, aber spätestens mit West Entschluss Striker zu werden kommt richtig Spannung auf und nimmt konstant zu als West ihren Auftrag erhält. Damit wird die Frist von gerade einmal einunddreißig Tagen in Gang gesetzt und insbesondere während der letzten Tage sind die Nerven fast zum Zerreißen gespannt. Während West daran zweifelt, ob sie die eine ist, die sich als würdig erweist, hofft man als Leser selbstverständlich, dass sie überleben wird. Zum Einen für Chord und zum Anderen, weil West definitiv liebenswerter ist als ihre skrupellose Substitutin, die nicht davor zurückschreckt andere in diesen Kampf hineinzuziehen.

Der einzige große Kritikpunkt an Du oder Ich sind die mangelnden Informationen über die eigentlich so interessante Welt, die Elsie Chapman kreiert hat. Man merkt, dass sie viel Arbeit darin investiert hat und sie ihre komplexe Gesellschaft sehr gut ausgearbeitet hat, dennoch dient sie ihr scheinbar nur als Grundgerüst für den Plot, um der Handlung einen Sinn zu geben und zu erklären, warum West gezwungen ist zu töten. Obwohl sie sich eine Hintergrundgeschichte und Ursachen für die negative Entwicklung, die schließlich zu diesem grausamen Filtersystem führte, ausgedacht hat, wird der Leser mit nur einer Handvoll Sätzen abgespeist. Man erfährt zwar grob, wie es zu den Substituten kam und warum, aber nicht, wie die die Bewohner von Kersh darüber denken. Es gibt keine Hinweise darauf, ob der Surround tatsächlich eine allgegenwärtige Gefahr darstellt oder das nur eine Erfindung bzw. ein Vorwand des Boards ist, abgesehen davon, dass ein Mord einen noch lange nicht zu einem guten Soldaten macht.

Da Kersh offenbar vollständig abgeriegelt ist, kommt niemand weder herein noch hinaus, sodass es für die Bürger nicht möglich ist zu überprüfen, ob diese Behauptungen zutreffend sind. Nur warum wird das so gut wie überhaupt nicht hinterfragt? Kaum jemand scheint wirklich dagegen aufzubegehren oder gar fliehen zu wollen. Nicht einmal Eltern, obwohl zumindest diese doch versuchen müssten ihre Kinder vor dem Tod oder einem Schicksal als Mörder zu bewahren! Denn ist es nicht eigentlich die Charakteristik einer Dystopie, dass die Figuren, vor allem natürlich die Protagonisten, früher oder später wenigstens erkennen, dass etwas in ihrer Gesellschaft falsch läuft und diese daher ändern wollen?

Darüber könnte man hinweg sehen, wenn, wie in einigen anderen Dystopien, der Schwerpunkt dann wenigstens in der Fortsetzung auf diesen Aspekt gesetzt wird. Nur leider scheint West die Notwendigkeit des Filtersystems des Boards selbst am Ende, das für einen bloßen Auftakt ganz in Ordnung wäre, nicht anzuzweifeln, geschweige denn es abschaffen zu wollen. Man kann also nur hoffen, dass ihr – und Chord! – im zweiten Teil endlich jemand die Augen öffnet.

Fazit

Es ist wirklich schade, dass Elsie Chapman ihrer im Grunde so vielseitigen Welt nicht mehr Beachtung geschenkt hat, denn aus ihrem Gesellschaftsmodell hätte sie wesentlich mehr machen können als nur schmückendes Beiwerk. Wenn man über die unzureichenden Informationen hinwegsehen kann, ist Du oder Ich aber trotzdem zu empfehlen, da die Handlung selbst, abgesehen vom Anfang, wirklich spannend und interessant ist.

Man hofft allerdings in der Fortsetzung mehr über die Gesellschaft zu erfahren und dass es dann wenigstens ein paar Leute geben wird, die im Geheimen gegen das Board rebellieren.





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