[Rezension] Artikel 5

22. Oktober 2013 | 21:49 | Gelesen

Titel: Artikel 5
Autorin: Kristen Simmons
Originaltitel: Article 5
Erstveröffentlichung: 2012
Übersetzerin: Frauke Meier


Wissenswertes

Artikel 5 ist der Debutroman der us-amerikanischen Autorin Kristen Simmons, die Sozialarbeit und Psychologie studierte und neben dem Schreiben als Psychotherapeutin mit Traumapatienten und Missbrauchsopfern arbeitet. Sie lebt in Florida und liebt Jazzercise, ihren Mann und ihren Greyhound Rudy – und Schokolade.

Artikel 5 ist zudem der Auftakt zu einer Trilogie. Der zweite Teil, Breaking Point, ist unter dem Titel Gesetz der Rache Anfang Oktober bereits auf Deutsch erschienen. Der dritte und damit letzte Teil, Three, erscheint im Februar 2014 in den USA.

Inhalt

Nach dem Krieg gründete der Präsident der Vereinigten Staaten das Federal Bureau auf Reformation, dessen Aufgabe darin besteht, die Befolgung der neu aufgestellten Moralstatuten bedingungslos durchzusetzen. Jeder Verstoß wird hart bestraft und nicht selten tauchen die Leute, die wegen angeblicher Verstöße von der Moralmiliz festgenommen wurden, nie wieder auf.

Obwohl ihre Mutter illegale Bücher liest und sich nicht immer an alle Regeln hält, konnte die siebzehnjährige Ember sie beide bisher vor einem solchen Schicksal bewahren. Doch dann soll ihre Mutter auf Grund einer Änderung von Artikel 5 wegen der Zeugung eines außerehelichen Kindes unter Arrest gestellt werden und wird ausgerechnet von dem Mann verhaftet, den Ember einst liebte. Sie selbst wird in eine Resozialisierungsanstalt gebracht, in der ihr Gehorsam mit gnadenloser Gewalt erzwungen wird. Wenn Ember sich und ihre Mutter retten will, muss sie diesem Gefängnis entkommen. Ihre Vorgängerinnen haben den Fluchtversuch allerdings ausnahmslos mit dem Leben bezahlt …

Kritik

Artikel 5 ist eine außergewöhnliche Dystopie, die diese Bezeichnung wirklich verdient hat, denn nur selten findet man in (Jugend-)Büchern eine Gesellschaft, deren negative Entwicklung einen so aufregen und dauerhaft beschäftigen wird wie diese. Insbesondere emanzipierte Frauen, die es innerhalb des Romans durchaus noch gibt, können diese erneute, keineswegs nachvollziehbare Diskriminierung des weiblichen Geschlechts, die immer wieder für Fassungslosigkeit sorgt, nur schwer über sich ergehen lassen. Das gilt jedoch ebenso für die vielen anderen, völlig überzogenen Moralvorstellungen, die in der Welt, die Kristen Simmons erschaffen hat, gewaltsam durchgesetzt werden. Die meisten Gesetze – wobei dieser Ausdruck kaum zutreffend ist – entbehren jedweder Logik und die Strafen sind absolut unverhältnismäßig, zumal sie Menschen zum Teil für etwas bestrafen, das bereits vor etlichen Jahren geschehen ist und zu diesem Zeitpunkt noch legal war, weil es von nun an verboten ist.

Die Protagonistin Ember ist zwar von Anfang an alles andere als begeistert von den Moralstatuten, bemüht sich aber sehr darum nicht gegen sie zu verstoßen oder aus anderen Gründen aufzufallen und rebelliert, wenn überhaupt, ausschließlich innerlich. Um sie vor den Konsequenzen zu bewahren, hält sie auch ihre Mutter stets dazu an sich zurückzuhalten und ihre Abneigung gegenüber der Moralmiliz nicht öffentlich zu zeigen. Ember gehört demnach nicht zu den Heldinnen, die ihre Gesellschaft zunächst noch für perfekt halten und denen erst viel später klar wird, dass dem nicht so ist, was sie sehr sympathisch macht. Trotzdem ist sie zu Beginn noch relativ naiv, denn obwohl sie weiß, dass Menschen, denen ein Verstoß vorgeworfen wird, häufig spurlos verschwinden, glaubt sie in gewisser Weise noch an die Redlichkeit der Soldaten sowie der Regierung.

Erst als sie selbst und ihre Mutter zu Opfern des Systems werden und sie am eigenen Leib erfährt, was mit, teilweise sogar unschuldigen, Menschen passiert und wie man sie behandelt, erkennt sie ihre Ahnungslosigkeit. Nur leider ist die Wirklichkeit noch viel schlimmer als sie sich je hätte vorstellen können und das Ausmaß an physischer sowie psychischer Gewalt ist erschreckend, sowohl für sie als auch für den Leser.
Durch die vielen schrecklichen Erfahrungen, die Ember im Verlauf der Handlung macht, lernt sie sich selbst allerdings besser kennen und merkt, wie sehr diese jemanden prägen können. Sie sieht ein, dass sie manchmal zu vorschnell über eine gewisse Person geurteilt hat, was seine drastischen Taten betrifft, und selbst in der gleichen Situation tatsächlich genauso handeln würde, wenn ihr eigenes Leben oder das der Menschen, die sie liebt, in Gefahr ist.

Im Gegensatz zu Em ist Chase eine Figur, die man anfangs nicht im Geringsten ausstehen kann, vielleicht sogar verabscheut, und deren Verhalten man überhaupt nicht nachvollziehen kann. Wobei man hier zwischen dem kühlen Soldaten, den man in der Gegenwart kennen lernt, und dem liebenswerten Jungen von nebenan aus Embers Erinnerungen, differenzieren muss. Für letzteren kann man nämlich durchaus Zuneigung empfinden, nur lässt er sich schwer mit seinem neuen Ich in Einklang bringen.

Während Ember ihm auf Grund ihrer früheren tiefen Gefühle für ihn einfach nicht hassen kann und ihm daher mit der Zeit vergibt, obgleich seine widersprüchlichen Taten sie immer wieder verwirren, muss er sich das Vertrauen sowie die Sympathie des Lesers hart erarbeiten, was alles andere als schnell geht. Es ist ein langer und steiniger Weg, doch als man schließlich erfährt, was er bei der Moralmiliz durchlitten hat und somit den Grund für seine auffallenden charakterlichen Veränderungen, kann man nicht länger nachtragend sein. Was man ihm angetan hat, ist noch schlimmer und traumatischer als das, was Ember erlebt hat, und so etwas hinterlässt nun einmal seine Spuren. Im Grunde ist es bewundernswert, dass er diesen Wahnsinn überlebt hat ohne innerlich vollkommen leer zu sein oder jegliches Mitgefühl zu verlieren.

Entgegen seiner eigenen Behauptungen hilft er Ember nicht bloß aus einem Pflichtgefühl heraus, sondern weil er ebenfalls sehr viel für sie empfindet, nur dass er sich im Hinblick auf ihre Beziehung wegen seiner niederschmetternden Schuldgefühle und seines Selbsthasses oftmals selbst im Weg steht.
Durch ihre gemeinsame, weit zurückreichende Vergangenheit, in die man kurze Einblicke in Form von Erinnerungen erhält, sind ihre Gefühle füreinander äußerst glaubwürdig, sodass man versteht, warum sie sich lieben. Dennoch drängt sich die Liebesgeschichte nie in den Vordergrund, da sich Kristen Simmons auf wenige, dafür umso intensivere gefühlvolle Momente beschränkt, sodass Leser, die auf Romantik gern verzichten, sich nicht zu sehr daran stören dürften.

Selbstverständlich gibt es darüber hinaus noch ein paar Nebenfiguren, diese spielen im ersten Teil der Serie aber eine eher untergeordnete Rolle und werden in der Regel nicht näher beleuchtet, was einen allerdings nicht kümmert. Viele werden nur erwähnt und sind insgesamt nicht weiter von Bedeutung, andere sind dagegen etwas reizvoller und könnten in der Fortsetzung an Relevanz gewinnen, falls Ember und Chase von der Flucht zum Angriff übergehen.

Die beiden Hauptfiguren allein sind schon so interessant, dass man ihre Geschichte gebannt verfolgt, doch die Geschehnisse um sie herum sorgen ebenfalls für reichlich Spannung. Die meiste Zeit über sind Ember und Chase auf der Flucht, bei der sie mehr als einmal herbe Rückschläge hinnehmen müssen, die sie wieder weiter von ihrem Ziel entfernen. Dabei müssen sie sich nicht nur vor den Soldaten der Moralmiliz, sondern ebenso vor anderen Bürgern, in Acht nehmen. Die Armut der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung führt zwangsläufig zu Kriminalität, Skrupellosigkeit und Gewaltbereitschaft, sodass man niemandem mehr trauen darf.

Am Ende überrascht oder vielmehr entsetzt Kristen Simmons noch mit einer äußerst traurigen Wendung, die sogar ein paar Tränen verursacht, ehe sie das Geschehen noch einmal ordentlich vorantreibt. Dafür entschädigt sie ihre Leser mit einem runden Abschluss des ersten Bandes, der einen zumindest vorübergehend zur Ruhe kommen lässt und für den man ihr sehr dankbar ist. Nichtsdestotrotz will man auf den zweiten Teil natürlich auf keinen Fall verzichten.

Fazit

Artikel 5 ist ein großartiger Auftakt zu einer dystopischen Trilogie, die positiv aus der Masse heraussticht und deshalb sehr empfehlenswert ist. Kristen Simmons gelingt es die unterschiedlichsten Gefühle in einem auszulösen, von Ungläubigkeit und Fassungslosigkeit über Trauer bis hin zu Freude und Erleichterung. Sie raubt einem den Atem, zerrt an den Nerven, kann einen jedoch auch zu Tränen rühren und zum Lächeln bringen.

Ember und Chase sind zwei von Grund auf verschiedene, aber einzigartige Charaktere, deren Schicksal einen berührt und die man gern auf ihrem beschwerlichen Weg begleitet. Es wird daher trotz des abgeschlossenen Endes nicht allzu viel Zeit vergehen bis man sich die Fortsetzung schnappt!





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